Leben mit Meeresspiegelanstieg und Klimawandel: Eine Fallstudie aus den Niederlanden

Die Niederlande sind ein vergleichsweise kleines Land mit rund 34.000 km² Fläche, aber dicht besiedelt mit etwa 460 Einwohnern pro Quadratkilometer. Viele Menschen auf begrenztem Raum sind so von den potenziellen Auswirkungen des Klimawandels wie Überflutungen und dem Verlust von Land betroffen. Gleichzeitig ist die wirtschaftliche Bedeutung der landwirtschaftlichen Flächen und urbanen Ballungsräume enorm, was den Druck auf wirksamen Küstenschutz weiter erhöht. Ein Drittel des Landes liegt tiefer als der Meeresspiegel, während ein weiteres Drittel vor Überschwemmungen durch Flüsse geschützt werden muss. Diese Lage macht die Niederlande besonders anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels und des Meeresspiegelanstiegs.

Historische Entwicklung der Küstenregionen

Bereits im Holozän, vor etwa 10.000 Jahren, begann der Meeresspiegel durch das Schmelzen der Eiskappen zu steigen. Dieser Anstieg führte dazu, dass große Teile der heutigen Niederlande von Wasser überflutet wurden, was die Bewohner zwang, ihre Siedlungen an höher gelegene Orte zu verlegen oder höhere Wohnstätten (sog. „Terpen“, in Deutschland bekannt als „Warften“) und erste Deiche zu errichten.

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„Terpen“ sind in Deutschland bekannt als „Warften“ – hier auf der Hallig Hooge
By Sandra Buhmann, CC BY-SA 3.0, Link

Die heutige Landschaft der Niederlande, die durch Flussdeltas, Marsche und Dünen geprägt ist, wurde durch Prozesse wie Sedimentbewegungen, Gezeitenströme und Winderosion geformt. Die Dünen bildeten sich dabei durch Sandablagerungen und erstrecken sich heute mehrere Kilometer breit. Jüngere Dünen überlagern ältere Dünenlandschaften oder direkt die darunterliegende Küstenebene aus Ton und Torf. Diese natürlichen Barrieren spielten eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung der Küstenlinie und reduzierten die Anzahl der gefährdeten Küstenzellen.

Ab dem 13. Jahrhundert wurden regionale Wasserverbände („Waterschappen“) gegründet, die eine organisierte Entwässerung und Deichpflege ermöglichten. Diese Entwicklung markierte den Beginn einer koordinierten Wasserwirtschaft. Eine entscheidende technologische Neuerung, die ab dem 16. Jahrhundert eingeführt wurde, war der Einsatz von Windmühlen zur Entwässerung tiefliegender Gebiete. Diese Mühlen, die das überschüssige Wasser aus den Poldern pumpten, ermöglichten die landwirtschaftliche Nutzung und die Gewinnung neuer Flächen.

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Windmühlen wie diese wurden ab dem 16. Jahrhundert in den Niederlanden genutzt, um Wasser aus tiefliegenden Gebieten zu pumpen und so Land für die Landwirtschaft und Besiedlung zu gewinnen (Bild: M. Zerrle 2024)

Im 20. Jahrhundert prägten große Infrastrukturprojekte wie der Abschlussdeich („Afsluitdijk“) und das Delta-Projekt die Landschaft und legten den Grundstein für die moderne Wasserbewirtschaftung. Der Abschlussdeich, ein 32 Kilometer langer Damm zwischen den Provinzen Noord-Holland und Friesland, der 1932 fertiggestellt wurde, trennte das IJsselmeer von der Nordsee und verkürzte die Küstenlinie erheblich. Neben dem Schutz vor Sturmfluten schuf der Abschlussdeich auch einen großen Süßwassersee, der für die Wasserwirtschaft und Landwirtschaft von entscheidender Bedeutung ist.

Der Abschlussdeich in rot
Der Der Abschlussdeich („Afsluitdijk“) in rot
Von Condor3dEigenes Werk, CC BY 4.0, Link

Küstenmanagement zwischen Schutz und Naturerhalt

Mit den wachsenden Herausforderungen des Klimawandels veränderten sich auch die Ansätze im Küstenmanagement grundlegend. Während früher der Fokus auf dem Bau harter Schutzstrukturen wie Deichen und Sperrwerken lag, bevorzugt man heute einen Ansatz, der natürliche Prozesse in den Mittelpunkt stellt.

Der Ansatz des Küstenschutzes seit den 1990er Jahren basiert auf dem Grundsatz der „dynamischen Erhaltung“ („dynamic preservation)“. Grundlegend ist hier eine regelmäßige Sandzufuhr, um die natürliche Küstendynamik zu unterstützen und die Erosion der Küstenlinie auszugleichen. In diese Richtung geht auch das Konzept „Bauen mit der Natur“. Auch hier werden natürliche Prozesse wie Sedimentbewegungen oder Gezeitenströmungen gefördert. Dies geschieht beispielsweise durch die Schaffung von natürlichen Überflutungsgebieten. In diesem Sinne wurde bei Alkmaar die Sandaufspülung mit dem Namen „Kust op Kracht“ vorgenommen, bei Katwijk eine multifunktionale Küstenanlage errichtet sowie in der Provinz Südholland eine künstliche Sandhalbinsel mit dem Namen „Zandmotor“ angelegt.

„Kust op Kracht“ – Sandaufspülung bei Alkmaar

Die Maßnahme „Kust op Kracht“ verstärkt den Küstenschutz entlang der nordholländischen Küste. Ein 250 Meter breiter Dünen- und Strandstreifen wurde durch die Aufspülung von 35 Millionen Kubikmetern Sand geschaffen. Ziel war es, die Hondsbossche und Pettemer Zeewering, eine zuvor asphaltierte Deichanlage, zu sichern und den Wellenschlag auf die Küste abzumildern. Der flach auslaufende Strand bricht die Wellen weit vor der Küste, während die neu geschaffenen Dünen einen Puffer gegen Sturmfluten bilden. Die Region wird somit widerstandsfähiger gegenüber einem steigenden Meeresspiegel. Gleichzeitig wurde die Attraktivität für Naherholung durch die Anlage eines acht Kilometer langen Sandstrandes und die Integration von Rad- und Wanderwegen gesteigert. Die neuen Dünen verbinden angrenzende Naturräume und schaffen Lebensräume für Flora und Fauna, die sich dynamisch entwickeln können.

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Mit dem Projekt Kust op Kracht wurden die Hondsbossche Dünen geschaffen, die dem alten und stark befestigten Seedeich vorgelagert wurden. An der Stelle, wo früher mal die alte Dorfkirche stand, wurden Stelen aus Holz aufgestellt
By AwistreichOwn work, CC BY-SA 4.0, Link

Multifunktionale Küstenanlage, Katwijk

In Katwijk wurde der Küstenschutz durch den Bau eines 900 Meter langen „Deich-in-der-Düne“ verbessert. Der neue Deich wurde mit etwa drei Millionen Kubikmetern Sand bedeckt und fügt sich in eine künstliche Dünenlandschaft ein. Diese ersetzt den alten Deich, der mitten durch das Stadtgebiet verlief und den Sicherheitsanforderungen nicht mehr entsprach. Der neue Deich schützt die Region vor Hochwasser und integriert gleichzeitig einen erweiterten Strand und eine Tiefgarage unter der Dünenlandschaft. Dies soll die Erholungsqualität des Ortes verbessern, neue touristische Möglichkeiten eröffnen und gleichzeitig das Stadtbild bewahren. Die Dünen sind nur auf markierten Wegen zugänglich, was die Vegetation schützt und Habitate für Tiere erhält.

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Die neu angelegte Dünenlandschaft in Katwijk
By Marianne Cornelissen-KuytOwn work, CC BY-SA 4.0, Link

„Zandmotor“ – Provinz Südholland

Der „Zandmotor“ ist ein innovatives Küstenschutzprojekt in der Provinz Südholland. Dabei wurde 2011 eine künstliche Sandhalbinsel in Form eines Hakens geschaffen, indem 21,5 Millionen Kubikmeter Sand vor der Küste aufgespült wurden. Wind und Strömung verteilen den Sand entlang der Küste, wodurch Erosion ausgeglichen und die Küste langfristig verstärkt wird. Die natürliche Dynamik sorgt dafür, dass der Sand allmählich in die angrenzenden Küstenbereiche eingearbeitet wird, bis er schließlich Teil einer neuen Dünenlandschaft wird.

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Der „Zandmotor“ – ein künstlich geschaffener Sandhaken zum Schutz der Küste
By Smiley.toeristOwn work using Openstreetmap, CC BY-SA 3.0, Link

Das Gebiet bietet auch touristische und ökologische Vorteile. Die Fläche ist öffentlich zugänglich und dient als Erholungsgebiet für Aktivitäten wie Kitesurfen, Wandern und Strandsegeln. Zudem entstehen neue Lebensräume oberhalb der mittleren Hochwasserlinie, die Potenzial für Flora und Fauna bieten. Obwohl die Vegetation hinter den Erwartungen zurückblieb, entwickelt sie sich kontinuierlich.

Durch das begleitende Monitoring wird geprüft, wie effektiv eine große einmalige Sandaufspülung im Vergleich zu häufigeren kleineren Maßnahmen ist. Der „Zandmotor“ soll somit eine zukunftsweisende Lösung darstellen, um Küstenschutz, Naherholung und Naturentwicklung in Einklang zu bringen.

Oosterschelde-Sturmflutwehr, Provinz Zeeland

Auch die Oosterschelde-Sturmflutwehr dient als Hybridlösung zwischen Schutz und Erhaltung. Es geht zum Delta-Projekt („Deltawerken“), wekcges nach der verheerenden Sturmflut von 1953 begonnen wurde und setzte sich zum Ziel, die Küstengebiete durch Sperrwerke und Sturmflutbarrieren zu sichern

Das Oosterschelde-Sperrwerk, das 1986 fertiggestellt wurde, schützt vor Sturmfluten und erhält dabei den Gezeitenfluss in der Oosterschelde, um ökologische und wirtschaftliche Funktionen zu bewahren. Das Projekt reduzierte das Risiko von Sturmfluten deutlich und dient als Beispiel für modernen Küstenschutz.

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Sturmflutwehr Oosterscheldekering, Teil der Deltawerke
Von © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), CC BY-SA 4.0, Link

Die beweglichen Sperrwerke, die geschlossen werden können, um Sturmfluten abzuwehren, erlauben in ruhigen Zeiten den natürlichen Wasseraustausch. Die flexiblen Flutbarrieren, die im Hafen von Spakenburg eingesetzt werden, dienen als weiteres Beispiel. Diese 300 Meter lange Barriere aus Kunststoffschotten wird bei Hochwasser automatisch durch den Wasserdruck aktiviert und bildet eine bis zu 80 cm hohe Schutzwand.

Fazit

Die Niederlande zeigen, wie eine Gesellschaft sich an extreme Umweltbedingungen anpassen kann. Mit einer Kombination aus Technologie, Organisation und natürlichem Management haben sie eine Strategie entwickelt, die nicht nur die eigene Sicherheit erhöht, sondern auch Inspiration für andere Regionen bietet. Beispiele für internationale Kooperationen sind Projekte wie die Zusammenarbeit mit Bangladesch zur Entwicklung von Strategien für Hochwasserschutz und nachhaltiges Wassermanagement sowie die Beratung bei der Gestaltung von Deichen und Wasserinfrastrukturen in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina. 

Angesichts des Klimawandels bleibt jedoch vieles zu tun. Die Erfahrungen der Vergangenheit und die Innovationen der Gegenwart sind Schlüssel für eine nachhaltige Zukunft. Auch für Deutschland bieten die niederländischen Ansätze wertvolle Anregungen – insbesondere im Umgang mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur.

Quellen

Deutschlandfunk. (n.d.). Umwelt – Sandmotor als Küstenschutz. https://www.deutschlandfunk.de/umwelt-sandmotor-als-kuestenschutz-100.html

DenHaag.com. (n.d.). De Zandmotor (Der Sandmotor). https://denhaag.com/de/de-zandmotor-der-sandmotor

Der Standard. (2017, November 16). Mobiler Schutz gegen steigenden Meeresspiegel. https://www.derstandard.de/story/2000067885700/mobiler-schutz-gegen-steigenden-meeresspiegel

Doing Geo and Ethics. (2021, May 3). Die Niederlande und der Hochwasserschutz: »Wir haben keine Wahl, sonst kriegen wir nasse Füße«. https://doinggeoandethics.com/2021/05/03/die-niederlande-und-der-hochwasserschutz-wir-haben-keine-wahl-sonst-kriegen-wir-nasse-fuse/

Fachportal Pädagogik. (2004). Küstenschutz in den Niederlanden. https://www.fachportal-paedagogik.de/literatur/vollanzeige.html?FId=2370951

Niedersächsisches Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz. (2021). Niedersächsische Strategie zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels. https://www.umwelt.niedersachsen.de/download/178371/Niedersaechsische_Strategie_zur_Anpassung_an_die_Folgen_des_Klimawandels_2021.pdf

M. Van Koningsveld, J. P. M. Mulder, M. J. F. Stive, L. Van Der Valk and A. W. Van Der Weck (2008). Living with Sea-Level Rise and Climate Change: A Case Study of the Netherlands. https://www.jstor.org/stable/30137842

Umweltbundesamt. (2021). Analyse bestehender Normen auf Anpassungsbedarfe bezüglich Folgen des Klimawandels. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/5750/publikationen/2021-07-14_cc_56-2021_normen_anpassung_0.pdf

Wikipedia. (2008, February 5). Hochwasserschutz in den Niederlanden. https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwasserschutz_in_den_Niederlanden

Wikipedia. (n.d.). Sandmotor. https://de.wikipedia.org/wiki/Sandmotor

WWF (2018). Weiche Kante – ein konzeptioneller Beitrag zu einem naturfreundlichen
Küstenschutz in der Wattenmeer-Region. https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/Kuestenschutzkonzept-Weiche-Kante.pdf