Die lateinamerikanische Stadt – Merkmale und Stadtentwicklung

Was prägt die lateinamerikanische Stadt?

Lateinamerika weist einen hohen Verstädterungsgrad auf (2010 rd. 79 %; zum Vergleich Europa knapp 73 %, Afrika 39 %). Der Verstädterungsprozess setzte dabei besonders früh ein und lief mit enormer Intensität ab. In dieser relativ kurzen Zeitspanne hat die lateinamerikanische Stadt einen starken Wandel von der Kolonialzeit (Verstädterungsprozess startet 1520-1580) bis zur Gegenwart erfahren (Bähr, Mertins 1995 in Heineberg 2017, S. 294).

Die lateinamerikanische Stadt in der Kolonialzeit

Die lateinamerikanischen Städte (v.a. Klein- und Mittelstädte) sind in ihrer strukturellen und sozialräumlichen Gliederung noch stark von der frühen Kolonialzeit geprägt. Diese Kolonialstädte entsprachen dem Idealtyp der spanischen Stadtstruktur mit Grundformen der indianischen Hochkultur. 

Idealtyp der spanischen Kolonialstadt

  • regelmäßiger schachbrettförmiger Grundriss mit Seitenlängen eines Quadrates („cuadras“) von rund 100 Metern und Aufteilung des Quadrates in 4 Teile
  • Quadrat in der Mitte bleibt unbebaut und wird zum öffentlichen Platz und Mittelpunkt der Stadt, der plaza mayor 
  • wichtige Repräsentationsgebäude (Kathedrale, Rathaus, Kirche, Gericht, Schule) um die Plaza
  • Anschließende Quadrate bewohnt von der Oberschicht (palastartige Wohnhäuser mit großen Innenhöfen)
  • mittlere und untere Schichten siedelten in größerer Entfernung vom Zentrum, daher besteht ein soziales Gefälle nach außen hin
  • Märkte, Handwerk und Gewerbe am Stadtrand
  • am äußersten Ring am Rand lagen Hüttensiedlungen der Indianer und Sklaven
  • es besteht ein starkes Sozialgefälle vom Stadtkern zum Rand
Modell der hispanoamerikanischen Kolonialstadt (Heineberg 2003: 346)
http://geozentrale.blogspot.de/2008/01/idealschema-der-lateinamerikanischen.html

Das Modell der spanisch-amerikanischen Stadtentwicklung

Durch A. Borsdorf wurde 1982 das Modell der lateinamerikanischen Großstadt (von Bähr und Mertins 1981) erweitert zum Modell der spanisch-amerikanischen Stadtentwicklung. Dieses  stellt eine inhaltliche Ergänzung durch ein zeiträumliches Entwicklungsmodell der Strukturwandlungen lateinamerikanischer Städte seit der Kolonialzeit dar.

Idealschema der lateinamerikanischen Großstadt von Bähr/Mertins (1) und Modell der spanisch-amerikanischen Stadtentwicklung von Borsdorf (2) (Heineberg 2003: 347)
Quelle: http://geozentrale.blogspot.de/2008/01/idealschema-der-lateinamerikanischen.htmld
  • ältere, schon in der Kolonialzeit ausgelegte, ringförmige Anordnung im Stadtkern, welche von der City über eine Wohn-Geschäfts-Industrie-Mischzone bis hin zu den zentrumsnah gelegenen Slums reicht
  • sektorenförmige Erweiterungen mit den Oberschichtvierteln und den neu entstandenen Industriegebieten (entlang von Verkehrslinien) als wichtigste Orientierungsachsen. Seit den 30er Jahren zunehmende Hochhausüberbauung der Altstadt
  • Zellenförmige Gliederung an der Peripherie mit genormten Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus und der verschiedenen Hüttenvierteln als Haupttypen (seit 60er Jahren)

Entwicklungen bis Mitte der 1990er Jahre

Ausgangspunkt der Entwicklung der lateinamerikanischen Stadt war der Eisenbahnbau und die Motorisierung des Straßenverkehrs. Dadurch kam es zur Ansiedlung von Großhandel, Handwerk und ersten Industrien entlang der Verkehrsachsen. Außerdem wurden Arbeiterwohnsiedlungen in der Nähe des Gewerbes errichtet. Die soziale Mittel- und Oberschicht wanderte aus den Zentren in die Peripherie ab. Es kam folglich zur sektorenförmige Erweiterungen der Oberschichtenviertel an den Rand.

Entlang von Eisenbahnlinien und Ausfallstraßen wurde die funktionale und sozialräumliche Gliederung erheblich durch Zuwanderungen und intraurbane Wanderungen beeinflusst. Die Zuwanderer kamen dabei in erster Linie aus ländlichen Räumen. Sie gehörten den unteren Sozialschichten an.

Seit den 1920er Jahren wurden Wolkenkratzer für Einrichtungen des tertiären Sektors gebaut. Anstelle des engen Straßennetzes wurden neue breite Straßenachsen mit Boulevardcharakter errichtet.

In der City der lateinamerikanischen Stadt kam es zu einer sozialen Degradierung. Die Unterschicht bezog die sanierungsbedürftigen Altbauten der ehemaligen Ober- und Mittelschicht. Leider entstanden dadurch innerstädtische Elendsviertel. Diese weisen mangelhafte Bausubstanz, hohe Wohndichte und eine unzureichende Infrastruktur auf. Es entstanden also Slums und es fand der Prozess der Marginalisierung statt. Der Bevölkerungsanteil von Marginalsiedlungen ist seit vielen Jahrzehnten sehr hoch:  Neza-Chalco-Itza in Mexico-City ist der größte Slum der Welt mit vier Millionen Einwohnern. Diese Website bietet mehr Informationen zu Slums (englisch).

Durch den Bau von Vierteln des sozialen Wohnungsbaus und Hüttenvierteln an der Peripherie kommt es ab den 1930er Jahren auch zu innerstädtischen Wanderungen der Unterschicht in die Peripherie.

Entwicklungsprozesse seit den 1990er Jahren

Seit den 1990er Jahren wird auch die lateinamerikanische Stadt durch die Globalisierung geprägt. Außerdem vollzieht sich eine Schwächung der Polarisierungstendenz  zwischen den Vierteln der Armen und der Reichen. Nun kommt es zu Fragmentierung. Damit es eine sozialräumliche Mischung in großräumlicher Betrachtung, aber Entmischung auf der Mikroebene gemeint. Mittlerweile kommt es auch in lateinamerikanischen Städten zu Gentrifizierungsprozessen. In Mexico-City haben die Bewohner sogar einen eigenen Schutzheiligen gegen die Gentrifizierung erfunden.

Die Verbreitung von Gated Communities rasant gestiegen. Mittlerweile gibt es in Lateinamerika drei Typen:

  • urbane barrios cerradosummauerte, dicht verbaute Wohnkomplexe in Reihenhausarchitektur oder als Apartment der Mittel- und oberen Unterschicht
  • suburbane barrios cerrados: weniger dicht verbaut mit großzügigen Grünanlagen und Freizeiteinrichtungen für die Oberschicht
  • großflächige barrios cerrados: Siedlungen in der Größe von Kleinstädten als abgeschottete Gated Communites in Form von Einfamilien- und Apartmenthäusern mit integrierter Infrastruktur

Außerdem sind Einkaufszentren und Shopping Malls entstanden, welche mit großen Parkplätzen locken. Die PKW-Orientierung ist auch der Ausgangspunkt neuer Wohnkomplexe für die Oberschicht. Daraus ergibt sich auch eine steigende Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur.

In der Nähe von Flughäfen wurden Edge Cites gebaut, an der Peripherie sind Industrieparks entstanden.

Quellen

Heineberg, H. (2016): Stadtgeographie. 5. Auflage. Heidelberg.